WÜSTE. Schon immer hatte dieses Wort einen besonderen Klang für mich, einen Klang, der Resonanz auslöste, der Sehnsucht weckte. Sehnsucht nach dem Echten, dem Unbekannten, dem Radikalen, dem Großen; Sehnsucht nach der Herausforderung: heraus aus dem Nebensächlichen, dem Oberflächlichen, dem Bescheidwissen – mit einem Wort, Sehnsucht nach Gott.
Diese Sehnsucht schlummerte im Halbbewussten, bis meine Kinder den Rucksack packten, um mit der Gemeinschaft Emmanuel auf den Sinai zu fahren und dort vierzehn Tage lang von ihrem „Mose“ durch die Wüste geführt zu werden und eine klitzekleine Ahnung davon zu bekommen, wie es wohl gewesen sein muss, als auserwähltes Volk vierzig Jahre lang in dieser Gegend unterwegs zu sein, in der das Überleben auf Wunder angewiesen war. Ich wollte mit, aber leider: ich war zu alt, nur für U 30! Als ich meine Kinder zwei Wochen später vom Flughafen abholte und die erste Pilgerin durch die Schiebetür kam, raunte sie mir zu: „Etwas Großes ist geschehen.“ Mein noch ungetaufter Sohn wollte getauft werden. Ja, wirklich, etwas Großes war geschehen.
Ein paar Jahre später wurden die Wüstenexerzitien auch für Ü 30 angeboten, sogar für Ü 60. Man wurde introspiziert, ob die Motivation stimmte, die körperliche Leistungsfähigkeit. Fünf Stunden laufen am Tag? Kein Problem, sagte ich und dachte ich. Ende Februar flogen wir los, nicht nach Kairo, sondern nach Amman in Jordanien, aus Sicherheitsgründen, 32 Teilnehmer, gestandene Leute, zwei Priester, ein „Mose“, eine „Ziporah“, ein „Josua“ und zwei geweihte Schwestern. Mose ging voraus, vor ihm der Beduinenführer, zartgliedrig und leichtfüßig wie eine Gazelle, Josua hinterher, damit keiner verloren ging.
Es war noch stockfinster, als wir am Eingangstor zum Wadi Rum im Süden Jordaniens, aus dem Bus ausstiegen und unseren Tagesrucksack packen sollten. Das muss man erst mal lernen, wissen, wo was ist in welcher Tasche des Rucksacks, und was man braucht untertags, wenn der große Rucksack von „japanischen Kamelen“ transportiert wird, den Toyota-Jeeps der Beduinen. Wo wir uns befanden und wie viel Uhr es war, wussten wir nicht. Handys und Uhren waren zu Hause geblieben.
Es geht los. Sand unter den Stiefeln. Kalte, klare Luft, schwarze Bergsilhouetten gegen den nachtdunklen Himmel, an dem die Sterne zu verblassen beginnen. Wilde Hunde bellen in die Stille hinein. Einfach meinem Vordermann nachlaufen, ohne zu wissen wohin, ohne zu wissen, wie lange, ohne zu wissen, wie und wann und wo wir essen und schlafen würden. Die Notwendigkeit und Möglichkeit, irgendetwas selbst zu entscheiden, schrumpfte gegen null. Man nennt das Gehorsam oder besser noch: Vertrauen.
Der Morgen lichtet sich. Es wird schnell hell hinter den Bergen. Sie leuchten rosa auf und werfen messerscharfe schwarze Schatten. Was für gewaltige Gebilde türmen sich vom flachen Sandboden in die azurblaue Höhe, immer neue bizarre Formen, jeder Berg eine Persönlichkeit, Majestäten und Irrwische, erhabene und wüste Gestalten, und doch alles überwältigend schön.
Die Beduinen haben uns Frühstück bereitet: Bohneneintopf, Gurken, Tomaten, zuckersüßes Halwa, Fladenbrot und Wasser. Jeder packt die Tagesration fürs Mittagessen in seinen Rucksack und drei Liter Wasser. Es zeigt sich, dass wir sie nötig brauchen. Wir laufen weiter, noch im Haufen, plappernd, später meist im Gänsemarsch, schweigend. Oben auf einem Plateau, das wir keuchend über eine Sanddüne erreichen, der erste Lobpreis. Jeder Tag wird mit Lobpreis begrüßt, einem Gloria in glorioser Landschaft. Erde, Himmel, dazwischen mächtige Berge und sehr kleine Menschen.
Wüste heißt, alles Überflüssige weglassen. Was das Gepäck angeht, so wird mir die Reduzierung des Gewichts zu einem elementaren Bedürfnis. Im Sand zu laufen, ist weit anstrengender, als ich dachte, eine Wohltat, wenn einem fester Boden unter die Füße kommt. Aber auch in vielen Herzen lagert Überflüssiges, Sorgen, schwierige Beziehungen, ungeheilte, unvergebene Verletzungen, Zukunftsängste. Jetzt geht es darum, in die Gegenwart einzutauchen, Abstand zu gewinnen und zuzulassen, dass das klare, scharfe Licht der Wüste nach und nach Wege beleuchtet, die bisher nicht erkennbar waren.
Wir feiern die erste Heilige Messe. Die Männer schleppen Steine heran für den Altar, die Frauen binden aus dürren Ästen ein Kreuz und schmücken es mit grünen Blättern, Ginster und kleinen rosa Blüten, mit denen sich die Wüste im Frühling in seltenen Jahren schmückt. In einem schweren Rucksack wird „die Sakristei“ mitgetragen, Kelch und Patene, Wein und Wasser, das Messbuch, die Altartücher und die Priestergewänder. Das große Geschehen des heiligen Messopfers, die heiligen Worte, die der Priester spricht, dehnen sich aus in die Stille und fallen ins Herz, die Natur spiegelt die Majestät ihres Schöpfers. Mit flatternden Gewändern stehen die Priester vor und nach der Messe mit dem Rücken zum Volk und dem Gesicht zu Gott und treten für uns ein.
Wenn Mose etwas zu sagen hat, ruft er uns beim Namen: „Sankt Antonius“, nach dem Vater des Mönchstums im dritten Jahrhundert. Er weist Männern und Frauen die Richtung für die Notdurft, teilt „gefühlte“ Zeit zu für die Pausen. Mittags gibt es eine lange Pause, jeder ist allein mit sich und muss sich entscheiden, ob er sich weiter der stechenden Sonne aussetzen oder im Schatten frieren will. Die Wüste ist entweder kalt oder heiß und katapultiert uns aus der Lauheit heraus, die Gott so verabscheut (Off 3,15 – 16). Ich habe kaum Hunger vor Anstrengung. Nur raus aus den Stiefeln und hinlegen – aber in Rufweite, um das „Jalla Jalla“ des Mose nicht zu überhören, was auf Arabisch so viel heißt wie „Auf geht’s!“.
Weiter stapfen im Schweigen. Eine weite Ebene vor uns, einfach nur gehen, Schritt für Schritt, Stunde um Stunde, die Stiefel meines Vordermanns vor Augen. Es ist nicht sehr heiß, aber man will sich der Sonne nicht aussetzen, sie hat etwas Gefährliches hier in der Wüste, Kopf, Augen, Körper, alles ist verhüllt. Was zu Hause so schwer ist beim Beten, die Gedanken zu beruhigen, fällt leicht; es scheint einfach nicht genügend Energie im Kopf zu sein. Das Herzensgebet fügt sich allmählich dem Rhythmus des Gehens und das Gehen dem Gebet.
Wir werden in kleine Weggemeinschaften eingeteilt, wo wir täglich Gelegenheit zum Austausch haben. Es passiert so viel hier in diesem seelischen Dampfdrucktopf. Alte Verkrustungen brechen auf, Beziehungs– und Berufungsfragen fordern Antwort, Dankbarkeit bricht sich Bahn, wo vorher Gleichgültigkeit war; Tränen fließen, wo Jahrzehnte lang Trockenheit war. Wie vielfältig, wie einzigartig wirkt Gott in jeder Seele! Einer schlägt für den anderen die Bibel auf, und wir müssen immer wieder staunen, wie Gott den Zufall regiert und dem Einzelnen ins Herz spricht. Körperliche Beschwerden kommen so schnell wie sie gehen. Jemand bekommt mittendrin Schüttelfrost und Fieber. Am Tag darauf ist wieder alles in Ordnung. Ich kann irgendwann nicht mehr durchatmen, keuche schon beim Weg vom Schlafsack zum Frühstücksplatz. Wie soll das weiter gehen? Eine Ärztin gibt mir ein Asthmaspray – nicht dass ich je ein Problem damit gehabt hätte –, wir feiern Heilige Messe und der Spuk ist vorbei.
Als wir gegen Abend ins Lager kommen, ist die Sonne schon hinter der turmhohen Felsnische verschwunden, an deren Fuß wir Schutz suchen für die Nacht. Die Frauen hier, die Männer dort. Jeder sucht sich einen Fleck für Isomatte und Schlafsack, holt sich den schweren Rucksack und macht Abendtoilette mit Feuchttüchern. Vierzehn Tage lang nicht duschen, die Haare nicht waschen, aber man kann sie ja unter dem Beduinentuch verbergen; die trockene Wüstenluft scheint Gerüche nicht zu transportieren.
Die Beduinen haben einen niedrigen Windfang aufgestellt, darin Matten ausgebreitet und ein Feuer gemacht. Dort steht eine dickbauchige Alukanne mit schwarzem, süßen Beduinentee, daneben ein Kessel mit heißem Wasser. In einiger Entfernung füllen wir unseren mitgebrachten Teller mit frischen Salaten, Humus aus Kichererbsen, Reis, manchmal einem Stückchen Huhn. Jeder kann essen, so viel er will.
Die Nacht bricht ein. Wir sitzen ums Feuer, trinken Tee und jeder erzählt ein wenig von sich, woher er kommt, warum er hier ist. Mit der Stirnlampe auf dem Kopf suchen wir unseren Schlafplatz, werkeln herum in unseren siebzig Sachen, bis wir endlich im Schlafsack liegen, die absolute Stille hören und in den sternenübersäten Himmel schauen. Niemals habe ich so viele Sterne am Himmel gesehen. Wie schön, wie schön hat Gott die Welt geschaffen, so groß und doch so tröstlich!
Kein Tag ist gleich dem anderen. Das geistliche Programm der Katechesen, der Predigten, des Abendprogramms mit Zeugnissen und Anbetung und Spaß ist fein „getuned“ auf den seelischen Prozess. Wir werden immer lustiger, immer vertrauter, finden ständig etwas zum Lachen. So muss das wohl gemeint sein mit dem Volk Gottes, wenn alle auf Christus schauen, bereit, sich selbst zu verändern, offen für den anderen und solidarisch in der Not.
Es kommt der Tag, an dem wir beim Laufen abwechselnd das Allerheiligste tragen dürfen. Die konsekrierte Hostie liegt in einem Metallbehälter und dieser steckt in einem Lederbeutel. Nach der Mittagspause wird mir das Gefäß feierlich überreicht. Ich bin in fröhlicher Stimmung, hänge mir den Lederbeutel um den Hals, gehe ein paar Schritt und die Tränen stürzen mir in die Augen, ohne Traurigkeit, ohne Inhalt. Die Intensität ist so groß, dass ich die Pyxis, so heißt das Gefäß, mit beiden Händen von mir weg halte. „Wollt auch ihr weggehen?“, fragte Jesus seine Jünger, nachdem ihn viele verlassen hatten, die es unerträglich fanden, als er sagte: „Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt“ (Joh 6,48 – 71). Nein, ich will nicht weggehen. Gerade deswegen bin ich gekommen, dass die Worte des Glaubens Fleisch annehmen.
– Gabriele Kuby
Bei jedem Schritt durch den Wüstensand, ist mir Jesus näher gekommen. So wurde meine Wüstenzeit eine spirituelle Luxusreise!
So haben diese Exerzitien mich in der Tiefe meiner Seele zutiefst getroffen und ich zehre sicher noch sehr, sehr lange für den Weg durch die Wüsten meines Lebens. Ich danke Gott für alls das, was Er mir in diesen Tagen unverhofft geschenkt hat.