„Öffne die Augen und lass Dich von Gottes Wind tragen“ war der Gedanke, der mich in die Wüste geführt hatte. Das zweite Halbjahr 2007 war für mich in vielerlei Hinsicht eine chaotische Zeit, die mir bewusst machte dass ich dringend meine Prioritäten im Leben ändern muss – vor allem meine geistigen.
Ich wusste schon im ersten Moment, als ich im Januar den Flyer für die Exerzitien das erste Mal vor Augen hatte, dass mir diese Tage viel von dem bringen werden, was ich mir erhoffte – was mir damals nicht klar war, war die Tatsache, dass diese Tage zu den wichtigsten Erfahrungen meines Leben zählen würden. Der Wind hat mich im übertragenen Sinne nach Hause gebracht.
Ein Segelflieger vertraut sich den irdischen Winden an und baut dafür auf drei Säulen. Er braucht ein Flugzeug, Kenntnisse der Fliegerei und Erfahrung um sich den Winden zu stellen. Um vom Boden wegzukommen benötigt er zuerst ein anderes Flugzeug (Schleppflugzeug) oder eine Winde, die ihn in die Luft befördert. Danach vertraut er auf diese drei Säulen und nutzt sie, um in große Höhen vorstoßen zu können.
Mich dem geistigen Wind in Sinai anzuvertrauen kostete mich zu Beginn einige Schwierigkeiten. Die erste Hürde war noch ganz einfach: Mein Schleppflugzeug zum Sinai waren Freunde die mir den Kontakt zur Gemeinschaft Emmanuel hergestellt hatten und die Anmeldeformalitäten. Dann jedoch wurde das Vertrauen schon auf die Probe gestellt. Ich bin es eigentlich aus beruflichen Gründen gewöhnt die Dinge kontrollieren zu müssen. Mich der Organisation hinzugeben – nicht einmal die Uhrzeit zu kennen – war für mich ein harter Brocken. Die Organisation war mein Segelflugzeug in das ich mich gesetzt hatte. Ich saß darin und konnte nicht mehr raus. Unter mir waren bereits mehrere hundert Meter Luft und meine einzige Chance war es davon auszugehen dass mein Flugzeug sicher ist. Nachdem mir das gelang, entspannte ich mich und konnte mich auf die anderen beiden Säulen konzentrieren.
Fliegen zu können erfordert ein gewisses Grundverständnis für die Funktionen eines Flugzeuges. Der Pilot muss wissen welchen Hebel er wie und zu welcher Zeit ziehen muss. Manchmal kommt es sogar auf die richtige Reihenfolge an in der Knöpfe und Schalter bedient werden. So ist es auch in der Religion. Obwohl ich in meinem Leben schon oft Gottesdienste besucht habe wurde mir bewusst, dass ich viele der Abfolgen bei der heiligen Messe oder bei der Anbetung nicht kannte und/oder nie beachtet hatte. Ich war während der Pilgerfahrt tatsächlich das erste Mal in meinem Leben Ministrant und hab mich gefühlt wie ins kalte Wasser geworfen. Aber im Laufe der ersten Tage habe ich meine Augen und Ohren offen gehalten und habe mir die Kenntnisse angeeignet, die mir gefehlt hatten. Je mehr sich die Abläufe für mich automatisierten, desto leichter konnte ich den Inhalten folgen und meinen Geist öffnen.
Die dritte Säule ist die Erfahrung des Piloten. Die Erfahrung verbindet sein fliegerisches Wissen mit seinem Gefühl für den Wind und dem Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit seines Flugzeuges. Aus der Erfahrung wird Erkenntnis und aus dieser wird Wissen. Im Sinai war ich ein Flugschüler der über wenig Erfahrung verfügte. Während der zehn Tage bin ich unzählige Male in die Luft aufgestiegen und habe Erfahrung gesammelt. Ich habe meine Augen geöffnet und bin auf alles zugegangen. Zuerst war ich restlos überfordert von der geistigen Fülle die mir geboten wurde. Dann hat Rolf — einer der beiden Priester die unsere Gruppe begleiteten — etwas gesagt, das mir dabei geholfen hat mir aus der Fülle das zu nehmen was für mich richtig war. Rolf sagte: „Diese Exerzitien sind wie ein Buffet. Ich darf nicht versuchen alles zu nehmen, das wäre zu viel, sondern nur dass was mir schmeckt.“ So habe ich Schritt für Schritt das gegessen was für mich da war und habe meine Erfahrungen gemacht und diese in Erkenntnis und Wissen umgesetzt. Die Fragen die ich mir für diese Tage mitgenommen habe, wurden beantwortet; ich lernte die Worte der Bibel und die der Predigten nicht nur zu hören sondern auch mit dem Herzen zu verstehen; das Kreuz bekam für mich eine neue symbolische Bedeutung — und vieles mehr. Es würde den Rahmen des Berichts sprengen, wenn ich alle kleinen und großen Lern-Erfahrungen nennen würde die mir zuteil wurden.
Flugzeug, Wissen und Erfahrung sind notwendig um Fliegen zu können, aber ohne die Luft würde kein Flugzeug abheben. Die Luft, ein Gasgemisch bestehend hauptsächlich aus Stickstoff und Sauerstoff, ist es, die dem Flugzeug den Halt gibt. Das tragende Element für meine Exerzitien — die Luft unter meinen Flügeln — war auch ein Gemisch aus verschiedenen Komponenten. Einen großen Anteil hatte die Gemeinschaft der Pilgergruppe. Die Menschen die sich zu Beginn fast alle fremd waren haben sich in kürzester Zeit zu einer Familie zusammengeschlossen mit einem Zusammenhalt der in vielen Schulklassen nach 8 gemeinsamen Jahren nicht erreicht wird. Die Liebe die spürbar war hat viele von uns durch die Berge getragen. Ein weiterer Bestandteil der Luft war das Wetter. Während der Tage gab es Sonnenschein, Regen-, Schnee– und Graupelschauer. Es war heiß und eiskalt. Und immer zur richtigen Zeit. Passend zu den Inhalten der Predigten hat sich das Wetter verändert und uns allen viel gelehrt. Der dritte und wichtigste Anteil an meiner Luft war das Wort Gottes. Ich habe die täglich vorgesehene Zeit für das Studium der Bibel genutzt und mich vor allem in Genesis und Exodus vertieft. Diese Teile der Bibel zu lesen während ich selber in der Wüste Sinai war, hat mich tief berührt.
Ich kann mich an keine Reise erinnern aus der ich mit so schwerem Herzen wieder zurückgekommen bin. Trotz der Unannehmlichkeiten – wie die fehlenden sanitären Einrichtungen – wollte ich nicht zurück in die überfüllte Welt hier in Deutschland. Erst nach mehreren Tagen habe ich mich akklimatisiert. Ich bin wieder zuhause gelandet, jedoch ist eines sicher: Der Flug in der Wüste hat mich verändert. Rolf hat uns noch einige Dinge mit auf den Weg gegeben. Unter anderem hat er uns daran erinnert, dass wir das Licht der Welt sind. Uns Pilgern ist das in Sinai bewusst geworden und nun sind wir gerufen Sonne zu sein. Ich bin bemüht.